GENDER NEUTRALES DESIGN

WIE SINNVOLL IST ES FÜR EINE BRAND?

BHs mit Brusthaar und Boxershorts mit Babybauch: Für viele von uns ist das schon Normalität, bei einigen anderen sorgen diese Duos allerdings noch immer für Stirnrunzeln oder Zurückweisung. Ein kurzer Blick in die Branche zeigt: Queere Indie-Firmen wie Cantiq, Urbody oder TomboyX bieten ihre Produkte ohne binäre Geschlechtertrennung an. Doch würden auch größere Lingerie-Marken davon profitieren, auf diese Weise für Inklusivität zu stehen – oder würde es den Großteil der Kund:innen eher abschrecken? Inwieweit ist die Zeit reif für Marken und Produkte, die sich genderneutral ausrichten?
Die Frage nach dem zeitgemäßen Tempo und der stimmigsten Umsetzung im Kontext von genderneutralem Design treibt derzeit viele Entscheidungsträger:innen im Retail um. Und tatsächlich bietet das Thema vielseitige Möglichkeiten, aber auch komplexe Herausforderungen, die eine Marke bewusst, sowie mutig abwägen sollte, um sich die Gunst und den Zugang zu den nachkommenden Zielgruppen zu sichern.
Credits: CANTIQLA
Credits: TOMBOYX

WAS HAT GENDER MIT DESIGN ZU TUN?

Die Genderthematik verlangt manchmal noch etwas Klarheit in den Begrifflichkeiten: Gender bezeichnet zum einen die soziale Geschlechtsrolle (gender role) bzw. die sozialen Geschlechtsmerkmale und umfasst die Fähigkeiten, Interessen, Einstellungen und Verhaltensweisen, die in einer Kultur als typisch für ein bestimmtes Geschlecht gelten. Das Gender einer Kund:in verweist daher nicht unmittelbar auf die körperlichen und biologischen Geschlechtsmerkmale (sex) der Person. Diese Perspektive wird von einigen Menschen nicht so erkannt – sie glauben weiterhin an eine Einheit von biologischem Geschlecht und Geschlechterperformanz und an die traditionellen Kategorien von Mann und Frau. Für andere Gruppen jedoch ist eine non-binäre Differenzierung ein wichtiger Teil ihres Wertefundaments oder sogar ihrer persönlichen Identität.
Doch was hat diese Diskussion mit Design zu tun? Unsere eintrainierten Verhaltensweisen, kulturellen Normen und Werte, vor allem aber die eigenen Erfahrungen im Prozess des Erwachsenwerdens beeinflussen unser Denken, Fühlen und Handeln – und damit auch unsere Kaufentscheidungen als Kund:innen. Häufig finden Shopper:innen deshalb ein identisches Produkt in zweifacher Verpackung vor, ein typisches Beispiel sind Einwegrasierer: Auf der einen Seite steht der pastell-pinken, filigrane Ladyshaver „Venus Divine Sensitive“, während auf der anderen Seite des Regals die markigen, blau-grau-orangen Männerrasierer wie der „Fusion Power“ locken.
Diese binäre Unterscheidung finden vor allem die Kund:innen paradox, die bemerkt haben, dass Damenrasierer häufig leicht teurer sind als das männlich vermarktete Gegenstück. Diese negative Emotion macht sich die Kosmetikfirma „Studio Hellsten“ elegant zunutze: Rasierer werden im Shop der Marke mit einer hohen Modifizierbarkeit und Individualisierbarkeit statt gegendertem Design angeboten. Konsument:innen können aus verschiedenen Klingenarten wählen oder die Form des Griffs bestimmen. Die Farbgebung ist individuell zusammenzustellen und spricht Shopper:innen als Individuum an – und nicht separiert als Frau oder Mann.
Credits: STUDIO HELLSTEN

LAUTE UND LEISE VERÄNDERUNGEN UNSERER ROSAFARBENEN UND BLAUEN MARKETING-WELTEN

Dennoch haben Firmen, die unsere geschlechterspezifischen Vorstellungen, Wünsche und Sehnsüchte erkennen, häufig einen Vorteil – und das nicht immer ganz so grundlos, wie beim Thema Rasur. Ein graphisches Beispiel hierfür ist die Popularität der Porno-Produzentin Erika Lust, die den historisch männerdominierten Erotikmarkt um ihre feminine Perspektive erweiterte und von Kundinnen häufig mit dem Label „Porno für Frauen“ versehen wird. Doch obwohl die Brand auch dank dieses inoffiziellen Slogans groß wurde, ist davon auf der Webseite mittlerweile keine Spur mehr zu finden: Die “sex-positive Welt“ von Erika Lust spricht bewusst alle Kinkster und Neugierige in ihrer Gesamtheit an, anstatt ausschließlich weibliche Konsumentinnen zu adressieren und hält sich damit alle Türen weit offen.
Denn auch wenn viele Menschen durch ihre erlernten Genderrollen ein Gefühl von Sicherheit, Selbstbestätigung und oft auch Sexappeal genießen, sprechen die Trends der jüngeren Generation eine deutliche Sprache: Laut einer McKinsey-Studie schätzen 48 % der Verbraucher:innen der Generation Z vor allem die Marken, die Produkte nicht nach Geschlecht klassifizieren. Davon profitiert auch Calvin Klein, die dank des Y2K-Trends ohnehin absolute Teenie-Favoriten sind. Im Jahr 2020 feiert das Unternehmen den Relaunch seinen geschlechtsneutralen Dufts „CK Everyone”. Eine Produktidee, die bereits in den 90er Jahren mit geringem Erfolg getestet wurde. Doch im ersten Quartal 2021 verzeichnete Calvin Klein einen Umsatzanstieg von 65 % – trotz des anhaltenden Rückgangs der Einzelhandelsumsätze. Dass die Marke nicht nur ein genderneutrales Parfüm auf den Markt gebracht hat, sondern auch seit Jahren auf hippe Unterwäscheshoots mit non-binärer Ästhetik setzt, zeigt, dass die Brand die Früchte ihrer Strategie erntet.
Credits: CALVIN KLEIN


Um reich ernten zu können, müssen Marken das Thema Genderneutralität und Unisex allerdings nicht unbedingt immer so laut aufgreifen. Brüste und Blaumann, harte Kerle und Hammer – jahrzehntelang war kein Marketing so von männlichen Stereotypen dominiert, wie die Werbung rund um Heimwerker:innen-Produkte. Es ist ein deutliches Zeichen unserer Zeit, dass Bosch in einer Art stillen Revolution diese Fahrbahn verlassen hat. Wer die Webseite des Unternehmens besucht, sieht eher harmonische Bilder aus dem Familienuniversum, als sexualisierte Darstellungen von Frauenkörpern. Mit dem IXO Akkuschrauber hat die Traditionsfirma zudem ein Modell entworfen, das handlicher und sowohl im Design als auch in der Verpackungsart weniger sachlich-funktional gestaltet ist als herkömmliche Bohrer. Das Werkzeug eröffnet einen niedrigschwelligen Einsteig für DYI-Newcomer:innen und spricht den rekordträchtigen Verkaufszahlen zufolge alle Gender gleichermaßen an – eine subtile Art von genderneutralem Marketing, die für wenig gesellschaftliche Furore sorgt, mit der sich Bosch aber nachhaltig und zukunftsorientiert auf dem Markt platziert.

WO BEGINNT DIE GENDERNEUTRALE BRAND-JOURNEY WIRKLICH?

Ähnlich wie beim Greenwashing machen viele Marken aktuell noch den Fehler, das Thema nicht ganzheitlich anzugehen. Sie begnügen sich mit reinen „Schönheitsreparaturen” und schnellen Lösungen, doch ein genderspezifischer Slogan weniger und ein Gendersternchen mehr reichen bei diesem sensiblen Thema häufig nicht aus. Aber was erweist sich hier als sinnvoll? Sollte eine Marke, um eine bessere Verbindung zu progressiven Zielgruppen herzustellen und von genderneutralem Design profitieren zu können, nicht schon den gesamten Prozess tief durchdringen und sich bewusst mit dem Thema auseinandersetzen? Vom Schaufenster bis hin zur Strategie und zurück – welche Ansatzpunkte könnte es hier für eine Marke geben?
DAS SCHAUFENSTER: Am sichtbarsten sind genderneutrale Produktplatzierungen und Designs natürlich in Schaufenstern. Immer mehr Brands, vor allem im Fashion Bereich, verzichten auf die Unterscheidung zwischen Displays für Frauen oder Männer. Dafür nutzen sie neben Unisex Mannequins auch non-binäre Botschaften, mit denen loyale Kund:innen und neugierige Entdecker:innen in den Shop eingeladen werden. Dennoch bleibt die Frage, ob diese Art der Produktwerbung deiner Marke auch dann Authentizität verleiht, wenn die Shopper:innen im Geschäft selbst noch die klassischen Damen- und Herrenabteilungen vorfinden.
DIE MARKENKOMMUNIKATION: Wenn ein genderneutrales Schaufenster-Design entstehen soll, wird konsequenterweise bereits in der Konzeption der Kommunikation damit begonnen, das Produkt oder den Service non-binär darzustellen und zu vermarkten. Hierbei sollte die gesamte Shopping-Experience berücksichtigt werden: das Store-Design, sowie das gesamte Setup der Einrichtung im Hinblick auf Farben, Formen, Moods, Add-ons oder Aktionen sowie die Performance der Website und mögliche Kampagnen. Besonders emotional reagieren Nutzer:innen auf Kooperationen mit Influencer:innen oder Werbeträger:innen, welche den Wert der Genderneutralität in seiner gesellschaftlichen Relevanz glaubhaft verkörpern. Auch die Zusammenarbeit mit den richtigen Medien ist entscheidend: Die Publikationen sollten nicht nur die richtige Zielgruppe ansprechen, sondern in ihren Formulierungen auch einen stimmigen Ton finden. Zudem sollten Unternehmen, die sich klassischerweise an eine weibliche Zielgruppe richten und das ändern wollen, sich darum bemühen, Medien für sich zu gewinnen, die traditionell eher eine männliche bzw. non-binäre Zielgruppe bespielen. Oder andersherum.
Credits: MCM


DAS PRODUKTDESIGN: Ein Produkt genderneutral zu vermarkten ist das Eine, aber bei vielen Firmen muss das Thema bereits im Produktdesign mitgedacht werden. Gibt es Design-Aspekte, die beispielsweise Frauen davon abhalten, dein Produkt zu kaufen? Weil es zu schwer ist oder die Tasten drauf für kleinere Finger oder Hände zu weit auseinander liegen. Oder zwingt dein Produkt in seiner bisherigen Form die Nutzer:innen, sich für ein Gender zu entscheiden? Das könnte sowohl non-binäre Personen abschrecken als auch zu einem Sympathieverlust vieler Shopper:innen führen, die sich solidarisch mit der non-binären Community zeigen.

DIE PRODUKTENTWICKLUNG: Produktdesign und -entwicklung sind stark miteinander verbunden. Vermutlich macht es daher auch Sinn, zu hinterfragen, wie genderneutrales Design bereits in der Produktentwicklung einer Marke stattfinden kann. Es kann eine Menge Arbeit entfallen, wenn bereits an diesem Prozesspunkt auf Mitarbeiter:innen gesetzt wird, welche den Anspruch der Genderneutralität intuitiv begreifen und umsetzten können, da sie sich selbst damit identifizieren. Da das Thema massiver ist als viele Brands zunächst annehmen, können solche Insider:innen innerhalb des Teams dabei helfen, genderneutrale Projekte strategisch als Marken-Value zu verankern.

WIE SINNVOLL IST GENDERNEUTRALES DESIGN ALSO?

Geschlechtsneutrales Design erfordert ein tieferes Verständnis für kulturelle Zusammenhänge und ein feines Gespür für sich wandelnde gesellschaftliche Normen.
„Das bloße Hinzufügen des Hashtags „Unisex” zu einem Produkt reicht nicht aus, um von den Chancen des genderneutralen Designs zu profitieren. Es gibt immer noch Sorgen, Unsicherheit und auch Kritik im Kontext der Frage, wie und wann Unternehmen das Thema ganzheitlich angehen sollen –  aber die Zuversicht und Performance-Erfolge scheinen zu überwiegen“, schätzt Einzelhandels-Experte und SHOWZ-Gründer Ayan Yuruk den Markt aktuell ein. „Die aktuellen Entwicklungen zeigen uns, dass die Zukunft des Marketings auf jeden Fall in der Geschlechtsneutralität liegt. Bald werden kaufkräftige Zielgruppen immer stärker danach fragen, wie authentisch das Thema wirklich umgesetzt wurde. Deshalb sollten interessierte Brands die Geschlechtsneutralität optimalerweise schon zu Beginn des Prozesses in ihre Strategie aufnehmen. Dabei sollten diese Unternehmen jedoch auch das Bewusstsein über mögliche Risiken, Herausforderungen und kritische Reaktionen nicht aus den Augen verlieren und produktspezifische Gründe dafür finden, warum sie Weg in die Genderneutralität gehen.“
Für viele Firmen kann es ein schmerzhafter Prozess sein, sich einzugestehen, dass die eigenen Produkte oder Serviceangebote in der jetzigen Präsentationsform geschlechtsspezifische Stereotype nicht nur aufgreifen und abbilden, sondern auch aufrechterhalten. Doch wer diese Gespräche mit seinem Team bald führt, kann von den Entwicklungen und Shifts im Kaufverhalten der jüngeren Generationen profitieren. Denn Gen Y und Z sind gerade erst am Anfang ihrer kaufkräftigen Lebensphase und geben ihre Werte, Vorstellungen und Verhaltensweisen potenziell auch an ihre Kinder weiter. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass spätestens diese sogenannte Generation Alpha keine binären Wertvorstellungen mehr kennen wird?
“SHOWZ cares for its employees. That’s why all team members have benefits that help balance work and personal life, making the working process less stressful. It also encourages a healthy lifestyle, so check out all the perks you’d get as part of our team.

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